Ein irischer Arzt heuert auf einem Walfangschiff an und blickt an Bord in die Abgründe der menschlichen Seele. Ian McGuire lässt in seinem Roman „Nordwasser“ keine Grausamkeit aus und bewegt sich auf den Spuren von klassischen Abenteuergeschichten à la Moby Dick.
„Nichts für Zartbesaitete“, so fällt das Fazit von „The Sunday Times“ zu „Nordwasser“ aus und „The Independent on Sunday“ urteilt: „Verglichen mit diesem brutalen Überlebenskampf wirkt The Revenant wie ein Geschichtchen von Winnie-the-Pooh“. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Mord, Kindesmissbrauch, Tierquälerei, Drogenmissbrauch und rohe Gewalt. Autor Ian McGuire lässt in „Nordwasser“ keine Grausamkeit aus.
Abgeklärte Hauptperson
Was den Leser entsetzt, nimmt die Hauptperson, der irische Arzt Patrick Sumner, als relativ gegeben hin. Er hat schon einiges erlebt, ist körperlich und psychisch schwer angeschlagen. Es dürfte Ende des 19. Jahrhunderts sein, als der Mediziner an der englischen Küste auf der „Volunteer“ anheuert. Es ist nicht klar, warum er diesen Job auf dem Walfangschiff annimmt. Die Stelle ist wenig angesehen: Die potentielle Kundschaft besteht aus einer Mannschaft, die durch ihre harte Tätigkeit reichlich abgestumpft und verroht ist.
Für Sumner sind die Menschen, die zu ihm kommen, nur Körper: Beine, Arme, Brustkörbe, Köpfe. Ihr Fleisch bildet die vordere und rückwärtige Begrenzung seines Mitgefühls. Dem Rest gegenüber – ihrem Charakter, ihrer Seele – bleibt er gleichgültig.
McGuire, Ian: Nordwasser, 2018, mareverlag, S. 98
Auf der anderen Seite steht der Harpunierer Henry Drax, ein Mann ohne jegliche Skrupel. Zu erbitterten Gegnern werden die beiden Protagonisten als Sumner Drax einer grausamen Tat überführt. Dennoch: Der Zweikampf wird nicht einfach zwischen gut und böse geführt. Gut kommt in der Handlung eigentlich gar nicht vor. Sumner ist sicherlich kein Held im klassischen Sinne. Er hat ebenfalls seine finsteren Seiten.
Das Ziel der Seefahrt passt daher bestens ins Bild. Bald wird klar, dass es hier nicht einfach nur um den Walfang geht. Da die Industrie in Folge der Überfischung der Meere vor dem Aus steht, soll das Letzte aus dem Unternehmen herausgeholt werden. Erbarmungslos wie die Charaktere ist auch die Landschaft, in der die Handlung angesiedelt ist. Tiefste Temperaturen, Eis und Schnee, Hunger, weit weg von jeglicher Zivilisation und Ungewissheit – das gibt den passenden Rahmen.
„Nordwasser“ ist ein Abenteuergeschichte im klassischen Sinn. Kein Wunder, ist der Schriftsteller doch Literaturwissenschaftler. In dieser Funktion verfasste er schon Arbeiten über Hermann Melville, dem Autor von „Moby Dick“. Das düstere Szenario, die unberechenbare Hauptperson und das Hinauslaufen auf das große Finale macht das Buch zu einer Lektüre, die man nur ungern zur Seite legt.
Fazit: Ein unglaublich spannender Roman, der das Blut des Lesers in den Adern gefrieren lässt und das Übel der Welt vor Augen führt.
Ian McGuire: Nordwasser. Mareverlag 2018, 302 Seiten